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Robert Todd Carroll

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Anthroposopie, Rudolf Steiner und Waldorfschulen

Ist es so schwierig, Liebe und Zusammenarbeit zu vertreten, ohne sie in einen kosmischen Nebel einzuhüllen?

von Robert Todd Carroll

Der in Österreich geborene Rudolf Steiner (1861-1925) war von 1902 bis 1913 Leiter der Deutschen Gesellschaft für Theosophie, die er verließ, um seine Anthroposophische Gesellschaft zu formen. Vielleicht gab er die göttliche Weisheit zugunsten der menschlichen Weisheit auf, einer seiner Hauptgründe die Theosophen zu verlassen, war jedoch deren Weigerung, Jesus oder das Christentum als etwas Besonderes zu behandeln. Steiner akzeptierte andererseits problemlos hinduistische Vorstellungen wie etwa Karma oder Reinkarnation. 1922 schließlich gründete Steiner die "Christliche Gemeinschaft", komplett mit eigener Liturgie und Ritualen für Anthroposophen. Sowohl die Anthroposophische Gesellschaft als auch die Christliche Gemeinschaft existieren noch heute, sind aber voneinander getrennte Organisationen.

Steiner entwickelte erst mit fast vierzig Jahren sein großes Interesse am Okkulten. Er war ein echtes Multitalent; seine Interessen reichten unter anderem von Ackerbau, Architektur, Kunst, Chemie und Mathematik über Theater, Literatur, Medizin oder Philosophie bis hin zu Physik und Religion. Seine Doktorarbeit an der Universität Rostock beschäftigte sich mit Fichtes Theorie des Wissens ("Wahrheit und Wissenschaft - Vorspiel einer Philosophie der Freiheit"). Er ist Autor zahlreicher Bücher und Vorträge, darunter Titel wie "Vom Menschenrätsel", "Die Stufen der höheren Erkenntnis", "Geheimwissenschaft im Umriss" oder "Anthroposophische Leitsätze". Er hatte außerdem eine Vorliebe für Goethes mystische Ideen und arbeitete mehrere Jahre als Goethe-Herausgeber. Vieles von dem, was Steiner schrieb, wirkt wie eine Neuauflage von Hegel. Marx hatte in seinen Augen unrecht: Nach Steiner ist es das Spirituelle, das die Geschichte vorantreibt. Steiner erwähnt auch die Spannung zwischen der Suche nach Gemeinschaft und der Erfahrung der Individualität, die seiner Meinung nach keine Gegensätze darstellen, sondern in der menschlichen Natur verwurzelte Polaritäten sind.

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts begann Steiner, sich verstärkt mit esoterischer, mystischer und okkulter Literatur zu befassen. Theosophen stehen okkulten und mystischen Überzeugungen positiv gegenüber, und Steiner interessierte sich besonders für zwei theosophische Ideen: 1) Es gibt ein spezielles spirituelles Bewusstsein, das einen direkten Zugriff auf höhere spirituelle Wahrheiten ermöglicht, und 2) Die spirituelle Evolution wird davon behindert, dass man der materiellen Welt verhaftet bleibt.

Zwar verließ er die Theosophische Gesellschaft, gab aber den eklektischen Mystizismus der Theosophen nicht auf. In Steiners Augen war die Anthroposophie eine "spirituelle Wissenschaft". Überzeugt davon, dass die Realität letztendlich spirituell ist, wollte er die Menschen dazu befähigen, die materielle Welt zu überwinden und die spirituelle Welt durch das höhere, spirituelle Selbst zu erfahren. Seiner Lehre zufolge gibt es eine Art spiritueller Wahrnehmung, unabhängig vom Körper und den körperlichen Sinnen. Es scheint, als habe dieser besondere spirituelle Sinn ihn mit Informationen über das Okkulte versorgt.

Steiner zufolge gibt es Menschen seit der Erschaffung der Erde. Sie begannen als spirituelle Formen und schritten fort durch verschiedene Stufen bis hin zur heutigen Erscheinung. Die Menschheit lebt laut Steiner in der nachatlantischen Periode, die mit dem langsamen Versinken von Atlantis im Jahre 7227 v.Chr. begann ... Diese nachatlantische Periode ist unterteilt in sieben Epochen, von denen die aktuelle, die Europäisch-Amerikanische Epoche, bis zum Jahre 3573 andauern wird. Danach werden die Menschen die hellseherischen Fähigkeiten zurückerlangen, die sie angeblich in der Zeit vor den alten Griechen hatten. (Rob Boston, 1996)

Steiners langlebigster und bedeutsamster Einfluss liegt jedoch im Gebiet der Pädagogik. 1913 errichtete er in Dornach (bei Basel) das Goetheanum, eine "Schule für spirituelle Wissenschaft". Sie stellte einen Vorläufer der sogenannten Steiner- oder Waldorfschulen dar. Der Begriff "Waldorf" stammt von der Schule, die Steiner 1919 für die Kinder der Arbeiter errichten sollte, die in der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik in Stuttgart arbeiteten. Der Fabrikbesitzer hatte Steiner eingeladen, eine Vortragsreihe für seine Arbeiter zu halten. Er war offenbar so beeindruckt, dass er Steiner bat, eine Schule einzurichten. Die erste Waldorfschule in den Vereinigten Staaten öffnete 1928 in New York City ihre Pforten. Heutzutage gibt es nach Angaben der Steiner-Anhänger über 600 Waldorfschulen in mehr als 32 Ländern, die insgesamt auf etwa 120.000 Schüler kommen. Davon sollen etwa 125 in den USA stehen. Es gibt sogar eine (staatlich nicht anerkannte) Rudolf-Steiner-Universität, die akademische Grade in Bereichen wie "Anthroposophische Studien" oder "Waldorfpädagogik" vergibt.

Den Lehrplan seiner Schulen stellte Steiner gemäß Konzepten auf, die er offenbar durch spezielle spirituelle Einsicht in das Wesen der Natur und der Kinder erlangte. Er war der Auffassung, dass wir alle aus Körper, Geist und Seele bestehen. Er ging davon aus, dass Kinder durch drei jeweils siebenjährige Phasen hindurchgehen und dass die Erziehung auf die jeweilige spirituelle Phase abgestimmt sein müsse. Von der Geburt bis zum siebenten Jahr, meinte er, handele es sich um eine Periode, in der der Geist zunächst einmal damit fertig werden müsse, dass er nun in der materiellen Welt sei. In dieser Phase lernten Kinder am besten durch Nachahmung (diese Auffassung findet sich schon bei Aristoteles). Der Lehrstoff wird in diesen Jahren auf ein Minimum reduziert. Man erzählt den Kindern Märchen, bringt sie aber vor der zweiten Klasse nicht zum Lesen. Das Alphabet und die Schrift lernen sie aber bereits in der ersten Klasse kennen.

Wenn man Steiner glauben will, ist die zweite Phase des Wachstums durch Fantasie und Wunschvorstellungen geprägt. Im Alter von 7 bis 14 Jahren lernen Kinder daher am besten durch Akzeptanz und Nachahmung von Autoritäten. In dieser Zeit haben die Kinder nur eine Lehrperson, und die Schule verwandelt sich in eine Art "Familie" mit dem Lehrer als Vater oder Mutter.

In der dritten Phase (14 bis 21 Jahre) wird der Astralkörper in den materiellen Körper gezogen und verursacht so die Pubertät. Diese anthroposophischen Ideen sind zwar nicht Teil des Standard-Lehrplans in Waldorfschulen, scheinen aber von jenen geglaubt zu werden, die die Lehrpläne aufstellen. Waldorfschulen überlassen den Religionsunterricht den Eltern, sind aber grundsätzlich eher spirituell orientiert und haben eine im breiten Sinne christliche Perspektive.

Trotzdem - und weil sie kein biblisch-fundamentalistisches Christentum lehren - werden Waldorfschulen häufig wegen der Förderung von heidnischem Gedankengut oder gar Satanismus angegriffen. Dazu kommt es vermutlich, weil sie die Beziehung des Menschen zur Natur und zu natürlichen Rhythmen betonen, einschließlich einer Vorliebe für Feste, Mythen, alte Kulturen und verschiedene Feiern.

Einige Konzepte der heutigen Waldorfschulen stammen nicht von Steiner, aber es wird versucht, sie mit den spirituellen Eingebungen des Meisters in Einklang zu bringen. So wird zum Beispiel das Fernsehen aufgrund seiner Inhalte abgelehnt, da es zu einer Verarmung der Fantasie führe. Diese Vorstellung ist zweifellos für viele Eltern attraktiv, da es eher schwierig ist, im Fernsehen etwas zu finden, das einem kleinen Kind positive Werte vermittelt. Kleine Kinder sollten reden, mit anderen etwas unternehmen, zuhören und sich mit der Natur und anderen Menschen befassen, anstatt in katatonischer Trance vor der Mattscheibe zu vegetieren. Ich weiß nicht, was Waldorflehrer von Videospielen halten, aber es würde mich sehr überraschen, wenn sie diese nicht auch ablehnten, und zwar aus denselben Gründen.

Auch die Verwendung von Computern für jüngere Kinder wird von Waldorfpädagogen abgelehnt. Es ist noch lange nicht nachgewiesen, dass Computerkenntnisse für Kinder wirklich nützlich sind, auch wenn dieser Glaube unter Pädagogen weit verbreitet ist und jedes Jahr Milliarden Euro für die neueste Technik an den Schulen ausgegeben werden - für Schüler, die kaum lesen oder kritisch denken können und nur rudimentäre soziale und sprachliche Fähigkeiten haben. Andererseits scheinen Waldorfschulen diese Blauäugigkeit der öffentlichen Schulen im Bereich Technologie in Bezug auf Kunst und Handwerk zu haben: Was bei öffentlichen Schulen bestenfalls Neben-Nebenfächer sind, wird an Waldorfschulen hingebungsvoll betrieben und als notwendig erachtet, etwa Weben, Stricken, Musizieren, Schnitzen, Malen und vieles mehr.

Einer der ungewöhnlicheren Teile des Lehrplans umfasst etwas, das Steiner "Eurythmie" nannte, eine Bewegungskunst, mittels derer man versucht, die angeblichen "inneren Formen und Gebärden" von Sprache und Musik sichtbar zu machen. Laut einer Waldorf-Information "verwirrt sie Eltern, die die Waldorfpädagogik nicht kennen, aber Kinder reagieren auf die einfachen Rhythmen und Übungen, die ihnen helfen, Körper und Lebensenergien zu stärken und zu harmonisieren; ältere Schüler arbeiten später komplexe eurythmische Darstellungen von Poesie, Theater und Musik aus und erhalten dadurch eine tiefere Wahrnehmung der Kompositionen und der Texte. Eurythmie verbessert die Koordination und stärkt die Fähigkeit des Zuhörens. Wenn Kinder sich als Orchester empfinden und eine klare räumliche Ordnung zueinander haben, kommt es außerdem zu einer sozialen Stärkung."

Die interessanteste Konsequenz aus Steiners spirituellen Ansichten war sein Versuch, geistig und körperlich Behinderte zu unterrichten. Steiner ging davon aus, dass der Geist das Wissen erfasst und in allen Menschen derselbe ist, unabhängig von unseren mentalen oder körperlichen Unterschieden.

Die meisten von Steiners Kritikern sind der Meinung, er sei ein wirklich bemerkenswerter Mensch gewesen, außerordentlich anständig und bewundernswert. Anders als viele andere "spirituelle" Gurus war Steiner wohl ein wahrhaft moralischer Mann, der niemals versuchte, seine Anhängerinnen zu verführen und seiner Frau treu blieb. Es steht außer Frage, dass er Beiträge zu zahlreichen Themengebieten leistete, aber als Philosoph, Wissenschaftler und Künstler war er durchweg unoriginell und selten mehr als Mittelmaß. Seine spirituellen Ideen erscheinen wenig glaubwürdig und sind ganz sicher nicht wissenschaftlich.

Seine pädagogischen Konzepte hingegen sind beachtenswert. Er hatte recht mit der Feststellung, dass für die Entwicklung von Fantasie und Verständnis bei jungen Leuten große Gefahr besteht, wenn Schulen von der Regierung abhängig sind. Staatliche Erziehung führt wahrscheinlich zu einer Gewichtung des Lehrplans im Sinne des Staates, d.h. der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dadurch basiert die Erziehung nicht auf den Bedürfnissen der Kinder, sondern auf den wirtschaftlichen Anforderungen der Gesellschaft. Der Konkurrenzkampf, der einen Großteil der öffentlichen Erziehung antreibt, kommt vielleicht der Gesellschaft, aber vermutlich nicht den Kindern zugute. Eine Pädagogik, in der Zusammenarbeit und Liebe - und nicht Konkurrenzdenken und Ablehnung - die Beziehungen der Schüler untereinander prägen, wirkt sich wahrscheinlich günstiger auf das intellektuelle, moralische und kreative Wohlbefinden der Schüler aus.

Andererseits besteht die Möglichkeit, dass einige der seltsameren Ideen der Anthroposophie über Astralkörper, Atlantis usw. in einer Waldorfschule vermittelt werden, auch wenn Steiners philosophische Theorien nicht Teil des Lehrplans sind. Ist es so schwierig, Liebe und Zusammenarbeit zu vertreten, ohne sie in einen kosmischen Nebel einzuhüllen? Wozu der Sprung in das Reich des undurchsichtigen Mystizismus, um Kritik zu üben an dem Schaden, der einem Menschen zugefügt wird, wenn er sein Leben ausschließlich der Anhäufung materieller Besitztümer widmet und sich nicht um das kümmert, was anderen Menschen oder der Erde passiert? Warum ist es nötig, das Böse auf den Mangel an Spiritualität zurückzuführen? Man könnte genauso gut einen Überschuss an Spiritualität für unsere Probleme verantwortlich machen: Spirituelle Menschen halten so wenig von der materiellen Wirklichkeit, dass sie nicht genug dafür tun, sie zu einem besseren Ort zu machen. Warum kann man nicht gleichzeitig Geschichten erzählen, tanzen, singen oder Kunstwerke erschaffen und Chemie, Biologie und Physik studieren, um so die Natur kennenzulernen - und ohne das Ganze entweder als Mittel zur Arbeitsplatzsicherung oder als Harmonisierung der Seele mit kosmischer Spiritualität zu sehen?

Kinder sollten weder mit Spiritualität noch mit Materialismus belastet werden. Man sollte sie lieben und lehren, andere zu lieben. Man sollte ihnen gestatten, in einer Umgebung aufzuwachsen, in der Zusammenarbeit wichtig ist. Man sollte ihnen das Beste in Natur, Kunst und Wissenschaft nahebringen, das wir haben, und zwar auf eine Art, die sie davon abhält, alles in Verbindung mit ihrer Seele oder ihren Arbeitsmarktchancen wahrzunehmen. Leider haben die meisten Kinder Eltern, und viele dieser Eltern wären mit einer solchen Erziehung wohl kaum einverstanden.


Anmerkung des Übersetzers:

Steiner ist sicherlich eine der interessantesten Gestalten der an schillernden Persönlichkeiten nicht gerade armen Esoterik-Szene. Neben seiner theosophischen Tätigkeit und seinem anthroposophischen Wirken war er unter anderem vermutlich Eingeweihter von Aleister Crowleys O.T.O. (Ordo Templi Orientis) und soll von 1906 bis 1914 einen hohen Rang bekleidet haben (Grandt/Grandt: Schwarzbuch Satanismus. Augsburg 1995); endgültige Belege gibt es dafür allerdings nicht. Es muss auch dahingestellt werden, ob Steiner wirklich Symptome einer "schizoiden Persönlichkeitsstörung" aufwies (Lange-Eichbaum/Kurth: Genie, Irrsinn und Ruhm. München/Basel 1967). Sicher ist allerdings, dass Steiners Lehre immer wieder Bezüge zu Rassismus und Antisemitismus nachgesagt wurden und werden. Zahlreiche Zitate Steiners belegen ähnliches Gedankengut, allerdings war ein solches Denken zu seiner Zeit sehr weit verbreitet, auch in "wissenschaftlichen" Kreisen (eine faszinierende Einführung in dieses Thema bietet Stephen Jay Goulds "Der falsch vermessene Mensch"). Ernst Bloch gar hielt die ganze anthroposophische Bewegung für "faschistoid" (Bloch, "Erbschaft dieser Zeit", Frankfurt 1956) - andererseits war sie im Dritten Reich verboten. Eine wichtige Quelle von Steiners Eingebungen waren die in Esoterikkreisen berühmten Akasha-Aufzeichnungen. Insgesamt muss man abschließend über Steiner sagen, dass er in Bezug auf esoterische Inhalte sehr leichtgläubig und ziemlich wahllos war. Seine architektonischen Entwürfe hingegen bezeichnet sogar James Randi als "wirklich schön und ansprechend". Ein Porträt der heutigen Anthroposophie im deutschen Sprachraum findet sich bei www.rudolf-steiner.de.

 
Übersetzung: Tobias Budke

MorgenWelt, Hamburg, Germany
 

 

 

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Last updated 11/21/10